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Es gibt wirklich eine rhetorische Figur, die mich an aggressiv macht, an den Rand des Wahnsinns treibt oder unmittelbar davon abhält, einen Text zu lesen. Es ist das „Wir“ in journalistischen, und nicht nur diesen, Texten.

Das „Wir“ und das „Uns“ sollen irgendwie Verbindung, Identität, Beziehung herstellen zwischen dem Autor eines Textes (einer Rede, eine TV-Beitrags, eines was auch immer) und dem Publikum, dem Leser, der Zuschauer, der Zuhörer. Raffiniert, sollte man meinen, wenn es denn eine ernst zu nehmende inhaltliche Dimension hätte.

Denn ich sehe in den meisten Texten statt der rhetorischen Figur die Herkunft des „Wir“ in zwei Verwendungsformen durch Autorin oder Autor.

  1. Die Projektion: der Urheber, die Urheberin verallgemeinert eigene Beobachtungen, Befindlichkeiten, Feststellungen so, dass er oder sie davon ausgeht, jeder andere Mensch müsse genau so denken, fühlen, schlussfolgern. Aus den Rezipienten wird eine mit dem/der Autor:in eine homogene Masse, die Echokammer der Selbstvergewisserung, denn das Schreiben eines Textes ist ja doch meistens eine einsame Angelegenheit, und wer zu Selbstzweifeln fähig ist, der oder die findet das manchmal beängstigend.
  2. Die Distinktion: in Wirklichkeiten verraten aber viele ge-„wir“-te Texte, dass sich Autor:in gar nicht gemein fühlt mit der so vereinnahmten Menschenmenge. In Wirklichkeit wanzt sich das „Wir“ heran, da aber Autor:in einen gaaanz tollen Erkenntnisprozess bereits hinter sich gebracht hat bedeutet das „wir“ maximal: ich war früher auch mal so (blöd) wie ihr, aber darüber bin ich hinweg, und jetzt habe ich einen Text geschrieben, der Euch ermöglichen soll, meinen Zustand der Transzendenz zu erreichen.

Der Klassiker beim Erklären des Unsinns der Figur ist ja der Arzt, die Ärztin bei der Visite, der/die Frage stellt :“Wie geht es uns den heute?“ Klassische Patienten-Antwort: „Keine Ahnung wie es Ihnen geht, mir geht es besch…“ Ein „uns“ gibt es nicht, es geht um das Herstellen von Nähe, und das klappt inzwischen nur noch mäßig.

Der „Wir“-Test

Die Meisterin des distinktiven „Wir“ ist Sibylle Berg, deren Spiegel Online Texte mir deswegen in aller Regel auch schwer auf den Sender gehen.

Dass das „Wir“ unredlich gebraucht wird lässt sich leicht testen, indem ich als Leser:in kurz innehalte und den Satz, der mit „Wir“ gebildet wurde darauf abklopfe, ob er mich einschließt. Bergs aktuelle Auslassungen:

(…) wir arbeiten weiter – aber ohne im Anschluss konsumieren zu können. Und das bedeutet ein wenig: Wir Privilegierten, die jetzt gerade nicht für das Allgemeinwohl tätig sind, bekommen keine Bestätigung unseres Seins. Zurückgeworfen auf uns tun sich erstaunliche Lücken in unserem Selbstwertgefühl auf.

https://www.spiegel.de/kultur/coronavirus-und-alltag-dauernder-sonntag-kolumne-a-a3e9c214-b064-400b-8094-9a799bca1700

Äh, nö. Ich kann konsumieren, habe etwa am Wochenende die Känguru-Chroniken fürs Streaming gekauft, ich kann online shoppen, und bekomme Bestätigungen meines Seins durch meine sozialen Kontakte, die Familie und, ja, auch beruflich. Mit Lücken im Selbstwertgefühl kann ich nicht dienen.

Also: Unsinn. Das Wir ist das DUMMWORT hier. Dass sich Berg gar nicht im „wir“ gemeinsam mit Leser:in sieht, wird später deutlich, denn da geht es ihr nur ums „ihr“, wenn auch nicht so klar und deutlich:

Eine Zäsur der Planlosigkeit in der Zeit des Planungswahns in der bereits Schüler ihren Karriereplan erstellen, den Businessplan ihres Lebens. In der Menschen Diätpläne ausarbeiten, die Selbstoptimierung das Motto des Jahrzehnts war für alle, die nicht auf der Verliererseite stehen wollten. Oder liegen. Der planende Mensch war schon vor der Seuche mit dem schwindenden Wohlstand konfrontiert, mit der Ungültigkeit der Regel, dass die kommende Generation es besser haben sollte, aber.

ebd.

Am Ende bekommt sie diesmal, und das war nicht immer so, und markiert endlich ihre eigenen Schlussfolgerungen auch als ihre eigenen Schlussfolgerungen und nutzt dafür das „ich“, das in diesem Fall so viel ehrlicher ist als das „wir“. Für Autor:in allerdings auch ein bisschen gefährlicher, da auf dieser Ebene die Rezipienten sich für das „ich“ auch interessieren müssen. [Der Schluss ist wirklich ein eindringlicher Appell daran, dass „nach Corona“ nicht einfach alles so bleiben möge wie es ist, was ich unterschreiben kann.]

Der „Wir“-Overkill

Okay, warum schreibe ich das jetzt, hier, heute. Deswegen: Aufwachen, Kinder heißt der Text von Helmut Däuble in der taz vom Wochenende. Und so sieht er aus, wenn man „wir“ in der taz-Suche kombiniert hat („uns“ und „es“ markiert die Webseite von sich aus.

Muster erkannt? Der Text hat 1418 Wörter, und 79 mal alleine das Wort „wir“. Knapp 5,6 Prozent der Wörter sind damit „wir“, und „uns“ habe ich gar nicht gezählt. Wer den Text lesen will, und ich habe jedes „wir“ durch „Dummwort“ ersetzt, wird hier fündig.

Liebe taz: geht’s noch? Mit „wir“ fühle ich mich bei mindestens diesen Feststellungen gar nicht gemeint:

  • Täglich linsen DUMMWORT mit Schaudern auf die Pressekonferenzen von Virolog:innen, die uns ansteigende Kurven zeigen, und von Politiker:innen, die uns sanft erklären, wie wichtig jetzt Vernunft, Maß und Mitte seien. DUMMWORT sollten uns einfach mal in unser Schneckenhaus zurückziehen. Und das tun DUMMWORT auch.
  • DUMMWORT leben wie in einer Traumwelt, wie in einem prickelnden Horrorfilm, der uns schaudern lässt.
  • DUMMWORT leben wie in einer Traumwelt, wie in einem prickelnden Horrorfilm, der uns schaudern lässt.
  • In Ordnung, für eine kurze Zeit wollen DUMMWORT den Spuk ertragen. DUMMWORT schicken einander ulkige Toilettenpapierfilmchen zu und schauen weiter die „heute-show“ an. Ist ja alles halb so schlimm.

Verstanden? Vorwiegend distinktiv, denn der schlaue Politikwissenschaftler, der es ja schon immer besser wusste (siehe Publikationsliste, auf der ich wirklich fast jede Art von wissenschaftlicher Publikation vermisse) der kann sich mit DUMMWORT ja nicht selber meinen.

Dass Däuble dann popkulturell ahnungslos ist kann man – ahnen:

Uns kann keiner was. Ganz als wären DUMMWORT Megahelden aus einem Comic. Ganz als wären DUMMWORT Superwoman und Spiderman in einer Person. DUMMWORT können fliegen, wenn DUMMWORT nur wollen. Und Bösewichter erledigen DUMMWORT mit links. …  Und wenn dann doch was schiefgeht, Vater Staat ist ja immer da für uns: unser Überheld, unser Batman.

ebd.

Da wird DC und Marvel gekreuzt, und in seiner rudimentären Comic-Kenntnis ist Batman der größte der Superhelden, der „Vater Staat“ sein kann. Das fällt nun weit hinter die Erkenntnisse und den Batman von Frank Miller usw. usf. zurück und und und. Schnell noch ein „mission imposible“ eingebaut, und Däuble ist ganz vorneweg bei den Nerds. Geeks. Oder Sotunalsob.

An einer Stelle sagt er dann, wen er wirklich mit „wir“ meint, witzig, dass er diese Gruppe unter den taz-Lesern identifiziert:

Der Glaube, dass DUMMWORT, die kontinuitätsverwöhnte Mittelschicht, in einen schlechten Traum geraten sind, eint uns.

ebd.

„Kontinuitätsverwöhnte Mittelschicht“, das hat mal gesessen.

Aber was soll der Text uns sagen? Dass irgendjemand (s.o.) jetzt besser Mal Realität anerkennt? „uns“, echt jetzt? Ist das nicht gelogen, den Du, Papa, weißt ja schon alles besser?

Erst wenn Däuble anerkennt, dass sein paternalistisch arroganter Tonfall Teil des Problems, und nicht der Lösung ist, nehme ich das etwas ernster. Bämm, nimm das.

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