Auf der einen Seite haben wir, Medien und Bürger, ein Problem: sollen wir Theresa May und ihren Vorhaltungen gegenüber Russland trauen, was die Vergiftung des Ex-Agenten Skripal angeht? Es geht um Geheimdienstzeug, und um eine Geschichte, die wir in Roman und Film eher in der Fiktion ansiedeln würden. Auf der anderen Seite ist nicht alles, was wir merkwürdig finden, auch falsch.
Und dann gibt es Matthias Platzeck. Er ist augenblicklich gern genommener Interview-Gast in fast allen Medien, als Repräsentant des Deutsch-Russischen Forums prädestiniert, Verständnis für Russlands Herrscher Wladimir Putin zu haben und zu artikulieren. Klar, auch er soll etwas zur Ausweisung von Diplomaten aus westlichen Staaten sagen. Die vollkommen überforderte „Moderatiron“ bei hr-info stammelt sich durch das Interview. Der Versuch, mehr so pauschale Anti-Russland-Vorwürfe zu formulieren ist natürlich kein adäquater Umgang mit Platzeck, der ja nun nicht doof ist.
Umso mehr hat mich geärgert, dass er mit seinen eingeübten Argumentationsmustern einfach so durchkommt. Er hat sich für die Interviews dieser Tage vor allem einen Satz zurecht gelegt (auch bei tagesschau.de /Focus etc.):
„Wir handeln hier nach dem Motto: Wir erschießen erst mal den Verdächtigen und prüfen dann die Beweise.“
Da greift der Ex-SPD-Chef aber tief in die Kiste mit absurden Vorwürfen: im Gegensatz zu den toten Journalisten in Russland ist Russland selbst und sein Machthaber quicklebendig. Das Ausweisen von Diplomaten mag ein wenig aus der Mode gekommen sein, ist aber nach wie vor eher unter „Symbolpolitik“ denn unter aggressiver Aktion abzuspeichern. In dieser konzertierten Aktion sicher ein starkes Symbol – mehr aber auch nicht.
So hat Platzeck die üblichen „Antworten“ parat:
- „Deutschland muss auch das autoritäre Russland einbinden, weil man ja im zweiten Weltkrieg für viele tote Russen verantwortlich ist.“ Das mag nicht falsch sein, aber ist Deutschland dann auf der anderen Seite nicht auch Großbritannien gegenüber verpflichtet? Und der Ukraine, ja, der Ukraine, weil viele der Opfer des 2. Weltkriegs aus der Ukraine kamen? Und bemisst sich die Verantwortung Deutschlands anhand seiner Opfer im 2. Weltkrieg? Fragen über Fragen, die darauf hindeuten, dass dieser Argumentationsstrang ins Nichts führt
- „Geheimdiensten ist nicht zu trauen, siehe Irak-Krieg-Biowaffen-Lüge“. Das gilt natürlich nur für westliche Geheimdienste. Oder endet die Argumentation hier ganz abrupt? Das Dumme für die „Verteidiger Russlands“ ist, dass sie sonst immer gerne die „Cui Bono“-Frage stellen (die m.E. selten weiterführt), in diesem Fall aber verabsäumen zu erklären, was den Großbritannien von der Verschlechterung der diplomatischen Beziehungen zu Russland haben könnte. Während Putin es immer schafft, seine Zustimmungsraten dann zu erhöhen, wenn der Westen das „arme Russland“ wieder einmal disst.
Und für mich noch viel wichtiger ist: wir wissen über die US-Geheimdienstlügen Bescheid. Interessant, oder? Weil in den USA und in Europa politische Systeme existieren, die journalistische Recherchen erlauben, in denen es Oppositionsparteien gibt, die böse Nachfragen stellen, oder, sobald sie selbst an der Macht sind, Dinge offenlegen. In denen kritische Geister, sowohl wenn sie Recht haben als auch wenn sie Unsinn reden, am Leben bleiben. Publikationsplattformen haben. In Büchern, Zeitungen, Zeitschriften und diesem Internet publizieren können. Das ist doch der Hauptunterschied zu Russland. Jeder kann hier jeden Fehler der US-Regierung der letzten 40 Jahre rauf und runterbeten. Und da gab es viele Fehler und auch Verbrechen. Für die Spannungen im Mittleren Osten darf immer gerne der Irak-Krieg der Amerikaner von 2003 herhalten. Aber was lernen etwa Russen über den Afghanistan-Einmarsch der UdSSR 1979? Kann man die Kausalkette für die Verheerungen in der Region nicht möglicherweise bis dahin ziehen? Platzeck und andere tun so, als wäre die offizielle russische Geschichtsschreibung zuverlässig. Ich traue den westlichen Systemen dagegen deutlich mehr zu als dem autokratischen gelenkten Demokratismus Russlands. - „Putin hat 2001 eine Rede im Bundestag gehalten“. Ja, hat er. Ja, das waren großartige Worte. Doch während sich andere Länder im Sinne eines einigeren Europas darauf eingelassen haben, so was wie Rechtsstaat, Anti-Korruptionspolitik und den Umgang mit Bürgerrechten zu üben, tat sich in Russland da nicht viel. Dieser großartige gemeinsame Wirtschaftsraum: der hat ein paar Voraussetzungen. In Russland tat sich da nicht viel.
Und dann immer die Einkreisung Russlands durch die NATO:
Die NATO-Einkreisung Russlands (gelb markiert) pic.twitter.com/gvVM6DbAtr
— Gerald Hensel 🔥⚔😘 (@ghensel) March 25, 2018
Es ist einfach ärgerlich, dass sich niemand traut, diese Argumentationsmuster zu hinterfragen. Und witzig, dass die „Nachdenkseiten“ und andere immer von der Russlandhetze in den Medien berichten und über gelenkte Journalisten spekulieren, während Platzeck & Co. doch durchaus jede Menge Raum bekommen.
Ich würde gerne festhalten: wenn irgendwo zuerst erschossen und dann geurteilt wird – dann ist Russland nicht weit.
Im ZEIT-Magazin gab es im November ein Portrait Platzecks. Ich bin daraus nicht wirklich schlauer geworden.
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