Das Transatlantische Freihandelsabkommen ist Gegenstand heftigen bürgerschaftlichen Widerstands. Dieser Widerstand ist allerdings nur Ausdruck eines Phänomens, das auch die Vorbehalte gegen die EU in der gegenwärtigen Form, Steuerreformen, allgemeine Gesetzgebung und „die da oben“ umfasst.

Die kommentierenden Journalisten sind allesamt anscheinend etwas ratlos, wie denn in einer „Exportnation“ wie Deutschland eine solche Bewegung derartige Ausmaße annehmen kann. Nahezu hilflos die Berichterstattung, die versucht, zu „erklären“, warum hier so viele Menschen auf die Straße gehen.

Beispielhaft etwa die FAZ „Marschieren gegen TTIP„:

Es ist schon erstaunlich: Kein anderes Thema mobilisiert derzeit so viele Menschen wie diese beiden Abkommen, nicht der Klimaschutz, nicht der Terror, nicht die Flüchtlinge.

Das ist „natürlich“ falsch: das Thema Flüchtlinge mobilisiert mindestens ebenso viele Menschen, nämlich vor allem die unglaublich große Zahl an Ehrenamtlichen, die sich vor Ort für Flüchtlinge engagieren. Und mobilisiert sind natürlich auch die „besorgten Bürger“ allerorten, die auch in Demos und einfach nur im AFD-wählen „mobilisiert“ sind.

Allerdings liefert der Artikel eine recht aufschlussreiche Charakterisierung des Widerstands – und trifft schon einen Punkt:

Was sie umtreibt, sei die Sorge, dass sich in ihrem eigenen Leben etwas zum Negativen verändert, etwa weil europäische Standards in Gefahr geraten. Die möglichen Profite für die großen Konzerne aus der Pharmabranche, der Chemie- und der Automobilindustrie könnten da als Argument nur wenig überzeugen. Und auch die fast schon legendären 545 Euro, die ein EU-Bürger laut einer Studie bei einem Abschluss des Abkommens mehr in der Tasche hätte – wohlgemerkt nach zehn Jahren –, wiegen die persönlichen Sorgen der Bürgerinnen und Bürger nicht auf.

Und

Mit wirtschaftlichen Argumenten lasse sich kein Zweifler von TTIP überzeugen, meint auch der Hamburger Psychologe Erich Witte. Denn meistens seien es ganz partikulare Interessen, die einen Bürger zu einem Gegner des Abkommens machen. Er führt den Erfolg der Gegenbewegung vor allem auf die Komplexität des Abkommens zurück. Das Problem von TTIP sei, dass es alles regeln will. Das mache es von allen Seiten so angreifbar.

Diesen Artikel sollte sich mal der FAZ-typischere Ralph Bollmann durchlesen: Wenn die Falschen protestieren.

Freier Handel nützt allen, wenn man es langfristig und aufs Ganze betrachtet, da sind sich die allermeisten Ökonomen einig. Bis zu zwei Millionen neuer Jobs könnten Prognosen zufolge durch TTIP auf beiden Seiten des Atlantik entstehen, je zur Hälfte in Amerika und in Europa. So hat es zum Beispiel der Ökonom Gabriel Felbermayr ausgerechnet, der am Münchener ifo-Institut über die möglichen Folgen eines Handelsabkommens forscht.

Klingt super. Doch diese Heilsversprechungen des IFO-Instituts müssen sich mit diesen Nachrichten aus den letzten Tagen, Wochen und Monaten messen. Und das sind die Stichworte

Mehr Arbeitsplätze

Gerne wird auf die gute Beschäftigungslage in Deutschland, die niedrige Arbeitslosenzahl und mehr verwiesen. Allerdings: Beschäftigungsboom mit Kehrseite – Millionen Vollzeitstellen verschwinden. Auch wenn der Trend gegen Minijobs anhält, so bleiben doch viele Beschäftigungsverhältnisse prekär. Und das hat Folgen.

Und wie sieht es bei den Beschäftigten aus? Die leisten häufiger mehr als 48 Wochenstunden, arbeiten an Wochenenden. Ist das das „gerechte“ Ergebnis des erfolgreichen deutschen Wirtschaftens?

Wenn gutes Wirtschaftswachstum, die erfolgreiche Bewältigung der Kriste von 2008 und dieses „Exportweltmeister“ nicht dabei helfen, den Arbeitsmarkt grundsätzlich arbeitnehmerfreundlicher zu machen, warum soll TTIP mit seinen vagen Verprechungen daran etwas ändern? Die Reallohnentwicklung ist beunruhigend, so etwa der Chef des DIW.

Da war noch die Bertelsmann-Studie zu Kinderarmut.

Wir haben es jetzt also mit Wirtschaftsvertretern zu tun, die heute TTIP als Segnung für den Arbeitsmarkt bezeichnen – das sind aber häufig dieselben, die uns vor geraumer Zeit vor der Einführung des Mindestlohns als Untergang des Abendlandes gewarnt haben. Das Abendland ist nicht untergegangen, und wer einmal in seiner Prognose so falsch lag, dem mag man die Frohe Botschaft vom Arbeitsmarktboom durch TTIP nicht glauben. Gerne folgt hier der Hinweis, dass immerhin ja in den Krisenländern Spanien, Portugal, Griechenland neue Arbeitsplätze entstehen könnten. Doch auch hier die Frage – konkurrieren nicht die Arbeitnehmer dort dann mit den schlecht bezahlten Immigranten in den USA?

Der „Trickle-Down-Effekt“, kurz mit „geht es denen oben gut, dann fällt auch was für alle ab“ ist, vollkommen zurecht, als Argument diskreditiert. Und doch wird immer wieder versucht, dieses „das Hilft allen“ flach vorzubringen, etwa durch die famose „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft

TTIP bedeutet mehr Handel, mehr Beschäftigung und daher mehr Wohlstand für Alle.

Die INSM (finanziert von den Arbeitgeberverbänden der Elektro- und Metallindustrie) entblödet sich nicht, in einer Anzeige in der taz (der ich die Einnahmen gönne) die TTIP-Gegner hier als Trump-Fans zu diskreditieren.  Die FAZ macht, durchsichtig, gerne mit. Dabei ist das rechte Völkchen, das TTIP und die Amis nicht mag, schon sehr im Blick der Organisatoren. Aber ist das nicht eigentlich einfach nur billig?

Großkonzerne

Ja, nicht nur die Großkonzerne finden TTIP Klasse, auch mittelständische und Familienunternehmer setzen sich dafür ein – ob die allerdings so ganz genau wissen, was sie da tun, das sei dahingestellt. Ich denke, ihnen geht es vor allem um den Abbau von Zöllen und eine Angleichung von Produktstandards, denn tatsächlich könnte man ja überlegen, dass man nicht für den US-Markt und den Europäischen Markt unterschiedliche Außenspiegel am Auto etc. braucht. Allerdings: Diese Einigungen könnte man auch so versuchen, und ein TTIP, das ausschließlich die Abschaffung von Zöllen und die Angleichung von Produktstandards will, da wäre wohl kaum Protest aufgekommen. Es ist aber die möglichst weitgehende Interpretation des Begriffes „nicht-tarifäre Handelshemnisse“, die das Problem ausmacht. Denn im Prinzip ist jede Art von Gesetzgebung ein nicht-tarifäres Handelshemmnis.

Und wenn international agierende Konzerne TTIP gut finden, dann muss man immer daran denken, wie diese Firmen ihrer Verantwortung für das Wirtschaftssystem gerecht werden:

Da ist zuerst mal die Deutsche Bank. Die rühmt sich zwar, ohne Staatsknete aus der Finanzkrise gekommen zu sein, aber das vielfältige Fehlverhalten der Bank holt das Institut jetzt ein – etwa bei der möglichen Strafe für Spekulationen um faule Hypotheken in den USA. Die Bank, Beispiel für deutsche Globalisierungssucht, hat in den zurückliegenden Jahren Schlagzeilen gemacht, vor allem durch Betrug – siehe Kasten am Ende dieses Artikels. Die Stichworte: Libor-Manipulation, Kirch-Pleite, Hypothekengeschäfte in den USA, Manipulation von Gold- und Silberpreisen, CO2-Zertifikate-Betrügereien, Zinsswap-Manipulationen. Und die Manager, die zu Beginn der 2000er Jahre und danach diese Praktiken verantworten müssen, die sitzen mit ordentlichen Pensionsleistungen und prima einkassierten Boni im Trockenen: Kopper, Breuer, Ackermann, Börsig. Muss das nicht auf den normalen Bürger zumindest befremdlich wirken – schließlich wurden die exorbitanten Gehälter der Herren immer mit besonders großem Talent und großer Verantwortung gerechtfertigt?

Die Affären und Skandale von Siemens sind schon wieder verdrängt, da tritt mit Volkswagen ein weiterer Akteur auf die Bühne, der verzweifelt daran arbeitet, das Ansehen der Deutschen Wirtschaft zu schädigen. „Abgas-Skandal“ klingt fast zu niedlich.

Ach ja, und da ist das Thema „Steuern zahlen“ – bei allen Unternehmen unbeliebt, aber bei multinationalen Konzern viel mehr. Dass gerade alle nach den Steuerdeals von Apple, Starbucks, Ikea usw. schauen scheint eine „anti-amerikanische“ Schlagseite zu haben, viele Bürger wissen aber ganz genau, dass auch deutsche Konzerne gerne in Luxemburg oder den Niederlanden Dependancen haben – und der verzweifelte Versuch der EU, in Sachen Besteuerung zu einer politischen Lösung zu kommen, auf einer ganz langen Bank liegt. Dass die EU-Kommission in Sachen Apple vorgeprescht ist, ist zwar bemerkenswert, aber schließlich trifft sie die Legitimationskrise die EU-Institutionen besonders hart – gerade wenn der Ex-Chef zu Goldman Sachs wechselt. Alles nach den Regeln, aber reicht das?

Das hätte man, wenn man denn über TTIP als umfassendes Paket sprechen will, reintun können: Prinzipien der gleichmäßigen Besteuerung in der EU und den USA. Sind nicht auch unfaire Steuervorteile für Einige ein „Handelshemmnis“, dass andere Unternehmen am Markteintritt hindert? Vielleicht wäre die öffentliche Meinung etwas gnädiger mit dem Verfahren, wenn dafür gesorgt wäre, dass die Haushalte der Staaten ihren Teil am erfolgreichen Handel bekommen?

Wer „Anti-Amerikanismus“ angesichts der Kritik an den amerikanischen Multis schreit, der greift deutlich zu kurz: die Mehrzahl der TTIP-Gegner hat schon verstanden, das deutsche oder europäische Multis keinen Deut mehr dafür tun, dass unser Wirtschaftssystem anerkannt und „gemocht“ wird.

Schiedsgerichte

Dazu muss ich wenig schreiben, die Argumente „die gab es immer schon, das hat noch nie jemanden gestört“ gehören ins vor-demokratische Zeitalter – und frühere Abkommen sind mit heutigen kaum noch zu vergleichen – was vor allem an den Geschäftsinteressen der beteiligten Anwaltskanzleien liegen könnte. Dass Europäer besonders gerne klagen ist jetzt auch kein Ausweis der Legitimation dieser Verfahren. „Das haben wir immer schon so gemacht“ gilt übrigens in Firmen und bei Unternehmensgründern als No-Go-Argument.

So schön es ist als Argument pro Schiedsgerichte zu lesen, dass auch mal ein Land gegen ein Unternehmen gewinnt – so bleibt doch festzuhalten: Niemand mag Tabakkonzerne.

Ich schaue mir mal NAFTA an, ein Abkommen, mit dem die drei Länder USA, Kanada und Mexiko insgesamt nicht sehr glücklich zu sein scheinen – die Unternehmen möglicherweise schon.

Im verlinkten Artikel des Tagesspiegel heißt es:

In einem der allerersten Verfahren gegen Kanada klagte das US-Unternehmen Ethyl und zwang die kanadische Regierung, ein bestehendes Gesetz aufzuheben, das einen gesundheitsschädlichen Benzinzusatzstoff verboten hatte, und außerdem 13 Millionen US-Dollar Schadenersatz zu bezahlen.

Die US-amerikanischen Energiekonzerne Exxon Mobil und Murphy Oil gewannen eine Klage gegen die kanadische Regierung, die eine Entschädigung von 60 Millionen US-Dollar bezahlen musste, weil Kanada Ölkonzerne in einen Fonds für Forschung und Entwicklung zahlen lässt. Diese alle Unternehmen betreffende Regulierung hat den Zweck, wenigstens einen Teil der Profite der Rohstoffentnahme Kanadas ärmsten Provinzen zugutekommen zu lassen. Als die Unternehmen mit ihrer Klage vor kanadischen Gerichten gescheitert waren, haben sie auf das in Kapitel 11 niedergelegte Investor-Staat-Verfahren zurückgegriffen und recht bekommen.

Anhängig ist eine Klage des kanadischen Öl- und Gaskonzerns Lone Pine, der über eine US-Niederlassung gegen die eigene Regierung klagt, weil die Provinz Quebec wegen Umweltrisiken bei der Gasförderung ein Moratorium für Fracking erlassen hat. Gefordert werden 250 Millionen US-Dollar Schadenersatz.

Der US-Pharmakonzern Eli Lilly fordert von der kanadischen Regierung 500 Millionen US-Dollar Entschädigung. Kanadische Gerichte hatten zwei Patente der Firma für ungültig erklärt, nachdem sie herausgefunden hatten, dass der Pharmakonzern unzureichende Beweise erbracht hatte, dass die Medikamente tatsächlich von langfristigem Nutzen wären. Das Unternehmen klagt nun mit dem Argument, dass seine künftigen Profiterwartungen beeinträchtigt seien.

Einer Public-Citizen-Studie von 2014 zufolge sind gegenwärtig Nafta-Investor-Staat-Verfahren im Wert von mehr als 12,4 Milliarden US-Dollar anhängig.

 

Soll einen das etwa TTIP-freundlich stimmen?

Grundannahme

„Was gut ist für die Wirtschaft, das ist gut für Dich“ – damit kann man heute niemandem mehr kommen. Kein Wunder also, dass es an Zustimmung zu TTIP fehlt. Und es fehlt anscheinend den Befürworten an gewichtigen Argumenten. Einfach nur gegen Chlorhühnchen-Gegner zu sein und diese zu diffamieren, das ist wirklich zu einfach, gell, Herr Bollmann. Noch schlimmer Herr Hank: „Demokratie ist überbewertet„.

Und dann ist noch das Phänomen „Lebendes Abkommen“ – nicht auf den Vertragstext mag es ankommen, sondern auf seine Fortentwicklung:

Der TTIP-Vertrag soll nämlich von Expertenkommissionen (vor allem dem Rat für regulatorische Kooperation/Regulatory Cooperation Body RCB) laufend fortgeschrieben, verändert und neuen Entwicklungen angepasst werden. Diese Expertenkommissionen sollen weitreichende Ergänzungen und Anhänge zum TTIP-Vertragswerk schreiben können – ohne dass die Parlamente diesen Änderungen zustimmen müssen. Der Vertrag könnte also nach seiner Ratifizierung ohne parlamentarische Mitwirkung grundlegend umgestaltet werden. Die Expertenkommissionen sollen allein mit Vertretern der Regierungen und Verwaltungen besetzt sein.

Soll das einen etwa TTIP-freundlich stimmen?

 

Hätten es die großen Konzerne und ihre Lobbyverbände geschafft, in den letzten 20-30 Jahren für jeden Menschen erfahrbar zu machen, wie die Liberalisierung des Wirtschaftens in vielen Bereichen tatsächlich umfassend zu mehr „Wohlstand für alle“ geführt hat, dann gäbe es diesen TTIP-Widerstand nicht. Der Blick in die südlichen Länder der Eurozone zeigt: keineswegs profitieren alle vom gemeinsamen Markt, und von der gemeinsamen Währung auch nicht – die Arbeitslosenzahlen dort sind erschreckend. Das versteht auch der Minijobber hier. Ein „Weiter so“, wie TTIP den Fortgang der Globalisierungsprozesse sieht, erscheint daher sehr unattraktiv.

Und natürlich ist es auch widersprüchlich, dass sich die deutsche Wirtschaft stolz den Außenhandelsüberschuss ans Revers heftet, dann aber die Verschuldungsquote anderer Länder beklagt. Wie soll es den gehen, wenn wir mehr exportieren, die Länder bei uns mehr Geld ausgeben als wir ihnen für Importe zahlen? Müssen sie dann nicht Schulden dafür machen?

Der Widerstand gegen TTIP ist Ausdruck des Leidens an einer Wirtschaftsordnung, bei der die meisten Manager und Unternehmer immer noch glauben (ja, wahrscheinlich glauben das nicht wenige!) dass alles, was ihren Unternehmen zu Gute kommt, automatisch gut für alle ist. Wobei ich mir bei den Multimillionen-Boni kassierenden Manager nicht sicher bin.

Der Widerstand gegen TTIP speist sich aus vielen Quellen – doch das mag die TTIP-freundliche Presse gar nicht analysieren. Und die Unternehmer, die das nicht verstehen können, müssen Nachhilfe buchen.