9783608503197Sie gehört zu den schillernden, dabei angenehmen Gestalten, die durch den Erfolg der Piratenpartei den Weg an die Öffentlichkeit gefunden haben. In ihrer Rolle als „politische Geschäftsführerin“ verkörperte sie über kurze Zeit den Typus des Politik radikal verändernden Piraten, in sie hinein wurde die Hoffnung auf eine Änderung dessen projeziert, was viele Bügrer, nicht nur aus dem piratenaffinen Klientel, als unzureichende Variante von demokratischer Politik empfinden.

Es ist das Unwohlsein angesichts der „Alternativlosigkeit“ von Politik, das die Regierung und auch die Opposition durch ihre Entscheidungen in der Euro-Krise aufgewühlt haben. Die Feststellung, dass Lobbygruppen und pauschal Wirtschaftsinteressen anscheinend größeren Einfluß auf die Gestaltung von Regeln und Gesetzen haben als der Willensbildungsprozess im politschen System.

Am Beispiel der Themen aus der Netzpolitik, technischen und organisatorischen Fragen der Informationsgesellschaft, haben die „etbalierten“ Parteien signalisiert, dass ihnen in diesem Politikbereich häufig jeder Sachverstand abgeht, dass sie sich auf Einschätzungen von Beamten und immer häufiger von mächtigen Interessengruppen verlassen (vielleicht gar verlassen müssen), die nicht selten daneben liegen.

Mit dieser Erfahrung, von ACTA bis LSR, über GEMA und „Dritten Körben“ – und vor dem Hintergrund dass der gar nicht so rechtsfreie Raum des Netzes mit Abmahnwellen und Abzocke im Netz dem Einzelnen das Leben schwer macht – stellen nicht wenige die Grundfrage, ob Politik und Politiker in vielen anderen Bereichen über Wirtschafts-, Außen-, Sicherheits- bis hin zu Kultur- und Gesundheitspolitik tagtäglich Entscheidungen über Themen treffen, von denen sie ebensowenig Ahnung haben. Und dort denselben Mechanismen ausgesetzt sind, die im Netzpolitischen zumindest für die Sympathisanten der Piratenpartei, einer kleinen aber auf ihrem Sektor gut informierten Minderheit, so offensichtlich sind.

Soweit ein kurzer Abriß der Stimmung aus meiner Sicht, die zu den Erfolgen der Piratenpartei und zur Bedeutung von Marina Weisband als deren Stimme (und vor allem auch Gesicht) geführt haben.

Nun also das erste Buch de r 24-jährigen Studierenden der Psychologie in Münster. WIR NENNEN ES DEMOKRATIE. Wow.

Tatsächlich ist der Band, wie viele Rezensenten schon beklagten, ratzfatz in rund zwei Stunden durchgelesen. Dünn, schreien deshalb schon die einen, das mag sein, aber auf der anderen Seite ist es spannend, diese Einsicht in die Gedankenwelt von @afelia zu bekommen – und zwar mögen die dicken Wälzer manch anderer Mitglieder des Politikbetriebes dicker und mehr Lesestoff sein. Automatisch wertvoller werden sie dadurch nicht.

Im Folgenden will ich kurz auf die Hauptprobleme des Buches eingehen, zum Schluss aber auch die bedenkenswerten Ansätze und Folgerungen aus dem Werk benennen.

Ein Grundproblem des Buches zeigt sich schon am Titel: WIR NENNEN ES POLITIK. Wer ist denn „Wir“? Folgt man der Lektüre, dann muss man sagen: Weisband meint „Menschen wie ich“ und beschreibt in biografischen Vignetten, was für ein Mensch sie ist – wie nach Deutschland gekommen, wie in der Schule aufgetreten, wie mit dem Netz in Berührung gekommen, am Ende auch, wie in die Piratenpartei verstrickt worden. Dass davon vieles ungeplant, zufällig und gar nicht politisch systematisch war, das habe ich mir schon gedacht, aber jetzt wird es beschrieben.

Doch Weisband benutzt das WIR in verwirrender Vielfalt: mal ist es die rhetorische Figur des Wir (im Sinne von „Jetzt schauen wir uns das mal genauer an“), also eine Vereinnahmung des Lesers. Mal ist es das Wir aus dem Titel (Menschen die sind wie ich), mal ist es das parteispezifische (Wir von der Piratenpartei), mal das Umfassende (Wir als Bürger).

Das macht die Lektüre nicht klarer – an manchen Stellen muss man das Wir interpretieren. Vielleicht hätte da ein aufmerksameres Lektorat mehr Klarheit schaffen können.

Die zweite rhetorische Figur ist die des Beispiels. Gerne mal anhand eine fiktiven Dorfes und seiner Bewohner versucht sie zu erklären, wie politische Prozesse verlaufen oder verlaufen könnten.

Die Menge an „Beispielen“ zeigt schon, dass es sich bei dem Buch um alles andere als eine verallgemeinerbare Theorie von der Politik in Zeiten des Internets handel. Das hat sie zwar auch nicht versprochen, aber der Buchtitel ließ zumindest auf eine Annäherung daran hoffen.

Es fehlt Weisband allerdings am handwerklichen Rüstzeug, um sich anders als über „Beispiele“ der Demokratie zu nähern. Es fehlt ein Politikbegriff, also zumindestens am Versuch zu definieren, was denn politisch geregelt werden darf, soll oder muss. Über was müssen denn die Bürger entscheiden? Und eigentlich auch: Über was nicht?

Danach müsste man unterscheiden zwischen reversiblen und irreversiblen Entscheidungen, und über Interdependenzen von Entscheidungen. Immerhin verweist Weisband darauf, dass Entscheidungen für Ausgaben auch Entscheidungen über Einnahmen sein müssen – wie schwer aber der Konnex für den Bürger transparent herzustellen ist, das wird eher gestreift.

Politik in 140 Zeichen hat sie auf Twitter versucht zu erklären: „Wir haben einen Kuchen. Wie verteilen wir ihn?“ Es folgt ein Kuchenbeispiel, das darin mündet, dass es in Politik im „Macht“ geht. Sie definiert Macht als „Handlungsspielraum, der einem zur Verfügung steht um Dinge zu verändern.“ Dem gegenüber steht „persönliche Macht“ und es folgt ein Beispiel von Dorfbewohnern. Und dann verliert sich die Definition von Macht (Position 579 von 1732) – eigentlich will sie irgendwie erklären, dass nicht nur das Lösen von Sachproblemen in der Politik eine Rolle spielt, sondern darüber hinaus auch die persönlichen Dispositionen von Politikern und deren „Befindlichkeiten“.

Wenn das mal nicht zu kurz gegriffen ist um zu erklären, warum alles nicht so läuft wie sich viele das vorstellen.

Das Hauptproblem an Weisbands Buch kommt dort und an vielen Stellen zum Vorschein: anscheinend gibt es die sachgerechte, vernünftige, tatsächliche Lösung für viele politische Fragen.

Sie kommt nur durch den augenblicklichen politischen Prozess, durch die parlamentariche repräsentative Demokratie nicht zum Zuge sondern hat es schwer, durchzudringen.

Deshalb wünscht sich Weisband: Feste Reglen, Dynamische Prozesse, Transparenz.

Da es keinen Begriff des Politischen gibt ist auch die Vorstellung von Demokratie begrenzt auf: jeder kann mitbestimmen, jeder kann mitreden, jeder kann aber auch seine Stimme und seine Mitsprache delegieren.

Nun, das macht das gegenwärtige System auch, nur ist die Schwelle für das „Mitreden“ zumindest gefühlt sehr hoch, und die Delegation durch Wahlen (de facto ja nicht alle vier Jahre sondern durch kommunale, Landtags-, Bundestags- und Europawahlen recht häufig) einigermaßen abstrakt.

Als Lösung beschreibt Weisband die „Liquid Democracy“ als permanenten Plebiszit, bei dem Bürger durch die Möglichkeit, jederzeit ihre Stimme dem ein oder anderen Vertreter zu geben und zu entziehen in der Lage ist.

Im Prinzip sind es zwei Probleme, die ich mit dem Demokratiebegriff habe: zum einen die Vorstellung, das es für jede Frage eine angemessene „technische“ Lösung gibt, die man nur in einem Prozess finden muss. Wenn man mal eine falsche Entscheidung trifft, dann revidiert man sie. Und dass das Internet dazu in der Lage sei, diesen Prozess zu regeln und zu gestalten, viel besser denn je.

Denn die Aussagen über die großartigen Errungenschaften des Netzes durchziehen das Buch – keine Überraschung. Dem Internet werden dabei, ohne dass das geschrieben wird, wundervolle emanzipatorische Qualitäten zugemessen.

Im Prinzip können wir sogar auf jede verfügbare Information zugreifen, ohne uns Bewegen zu müssen.“ (Pos.670) Auf jede verfügbare Information konnte schon immer jeder Zugreifen, nur: was ist denn eine „verfügbare Information“. Wie so häufig ist der Informationsbegriff hier ebenfalls unklar und in aller erster Linie „ positiv“ besetzt. Viele Informationen – viel gut.

In fast allen Lebensbereichen haben wir die Möglichkeit uns selbständig zu informieren, freie Entscheidungen zu treffen und unsere Meinungen direkt zurückzumelden.“ (ebd.) Mit Beispielen aus der Konsumwelt leitet Weisband dann über auf den Bereich der Politik, wo es doch ebenso möglich sein müsste, sein „Gefällt mir“, seine Produktbewertung oder „Meinung“ zu hinterlassen.

Jeder stimmt über jede Frage ab. Online. Jeden Tag.“ (Pos. 688) Dass das Probleme generiert ist Weisband klar, ihre Idee ist: „Wir tun das, was die Bewohner des Internets ständig tun: Wir bauen Netze“.

WIR NENNEN ES DEMOKRATIE ist immerhin die Beschreibung dessen, was so als Grobkonzept in den Gehirnen vieler „Piraten“ entstanden sein könnte. Duch die mangelnde theoretische Arbeit, die jetzt versuchen müsste, die „Beispielebene“ zu verlassen und zu handhabenden Begriffen zu kommen, ist das nicht mehr als ein früher Anfang auf schmalem Reflektionsnievau.

Weisband versucht, und das finde ich unsympathisch, mit den ersten Sätzen des Vorworts, ihre Buch gegen solche Kritik zu immunsieren:

Nehmen Sie dieses Buch nicht zu ernst. Es ist von einer 24-jährigen Studentin geschrieben, also was kann man davon erwarten? Für ein gutes Buch über Politik braucht man einen guten Überblick. Man braucht Erfahrung und sollte alles darüber wissen, wie Menschen in der Politik funktionieren und wie das politische Geschäft genau abläuft. Bloß weiß das leider keiner.“

Was dann über die Arbeit von Politologen, Soziologen und Psychologen folgt ist für diese wenig schmeichelhaft – für die Autorin aber auch nicht. Sie reklamiert für sich, nach einem Jahr Erfahrung „in der Politik“ den ungetrübten Blick auf „das System“, frei von Betriebsblindheit.

An dieser Stelle war mein Drang groß, das „Werk“ wieder zur Seite zu legen. Die Weigerung, sich mit dem bestehenden System auseinanderzusetzen, seine Genese und seine Funktion verstehen zu wollen, und das zugunsten eines „Blickes“ – das ist dicht an einer Zumutung.

So schafft es WIR NENNEN ES DEMOKRATIE ganz gut zu erklären, warum die Piraten so sind wie sie sind, aber auch wie eine Generation auf Wissen, Erfahrung und Theorie verzichten will, weil das ja alles nur den „ungetrübten Blick“ verstellt. Dass etwa wissenschaftliches Arbeiten darin besteht, zuallererst seine eigene Beschränkheit und Voreingemommenheit zu analysieren, das unterschlägt Weisband. Und macht es sich damit leicht, anderen aber sehr schwer, sie ernst zu nehmen.

Was lernen wir also nicht in diesem Buch: was Politik im Zeitalter des Internets ist. Wie demokratische Strukturen sinnvoll verändert werden können. Wie neue Institutionen aussehen können. Und wie wir alle damit zurecht kommen können, dass es eben nur ganz selten und ausnahmsweise im politischen Bereich die „sachgerechte, sachlich richtige, schlicht: die Lösung“ gibt, die immer wieder anklingt.

Insofern enttäuscht WIR NENNEN ES DEMOKRATIE jeden, der sich ein wenig Impulse zu diesen Fragen erhofft hat.

Wo bleibt das Positive?

Weisband plaudert über ihre Erfahrungen im Medien- und Politikbetrieb, das ist schon nicht unspannend. Und sie verweist zumindest an einer Stelle auf ein Problem, das zur Kernkompetenz der Piratenpartei werden könnte, wenn diese nicht zu sehr mit innerparteilichen Streitigkeiten beschäftigt wären: dass wir schnell zu einer Vorstellung von Open Data kommen müssen, bei der Bürger und Medien direkten Zugriff auf die Informationen erhalten, über die gewählte Repräsentanten und die Verwaltung verfügen.

Sie zeigt nachvollziehbar auf, dass es an den Schnittstellen mangelt, die aus dem interessierten Bürger einen informierten Bürger machen.

Allerdings beschäftigt sie sich auch nicht mit der Frage, dass Open Data zu neuen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten führen kann, etwa wenn eine Informationselite einseitig Daten zu ihrem Vorteil nutzt, etwa weil sie sehr viel früher in Erfahrung bringen kann, welche Vorhaben die Exekutive beschäftigt. Welche Daten öffentlich und welche vertraulich sein müssen, diese Kernfrage tastet sie leider nur vorsichtig an, wie so häufig gilt: Tranparenz an und für sich ist „gut“. Geheimnisse sind „schlecht.“

tl;dr Fast-Food-Lektüre, leider ohne Begriffsbildung und damit von sehr eingeschränktem Erkenntnisgewinn.

Marina Weisband: Wir nennen es Demokratie. Tropen-Verlag 2013. 173 Seiten.