Ich kritisiere nicht leichtfertig in grundsätzlicher Art und Weise unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat. Ich bin von den Alternativen links und rechts nicht überzeugt. Halte ihn vielfach für unterschätzt.

Aber im Augenblick häufen sich doch Punkte, die mich verzweifeln lassen an meiner grundsätzlichen Zustimmung zum bestehenden System – wäre der öffentliche Aufschrei größer, wären meine Zweifel geringer.

Da sind die Proteste gegen G20-„Randalierer“. Schon klar, die Echten hat man nicht gekriegt, jetzt müssen die Randfiguren dran glauben. Bluten für die anderen nennt das zutreffend die taz:

Dabei haben sich die beiden Verurteilten, der 21-jährige Peike S. und der 24-jährige Stanislaw B., wahrscheinlich gar nicht an den Ausschreitungen beteiligt. S. sogar ganz sicher nicht – er wurde am Donnerstagabend festgenommen, saß also in Untersuchungshaft, als es zu den Krawallen im Schanzenviertel kam. Trotzdem wurde er explizit für die „bürgerkriegsähnlichen Zustände“ verantwortlich gemacht, die er aus der U-Haft verfolgen konnte. Das ist Hohn und Spott für ein Justizsystem, das individuelle Strafen für individuell nachweisbare Taten zur Prämisse hat.

B. könnte theoretisch dabei gewesen sein – nur gibt es dafür keine Indizien. Ihm wird etwas ganz anderes zur Last gelegt: Er wurde mehr als eine Stunde vor Beginn der friedlichen Großdemo „Grenzenlose Solidarität“ in 2,4 Kilometer Entfernung vom Startpunkt festgenommen, weil er Sachen dabei hatte, die man auf einer Demo nicht dabei haben darf (…)

Im ersten Fall (bei dem übrigens niemand verletzt wurde) setzte es 2 Jahre und sieben Monate Gefängnis. Keine Bewährung. Mindestens ein Jahr bei guter Führung. Was der Kollege von NDR-Info als rechtsstaatlich und angemessen preist. Im zweiten Fall sechs Monate Haft auf Bewährung.

Kommen wir zu etwas ganz anderem:

In Dresden wird zwei Jahre nach der Tat ein Mann verurteilt, der auf einer Pegida Demo einen russischen Kameramann verprügelt hat, dieser erlitt eine Fraktur des Schädelknochens. Der Mann ist als Fußball-Prügler bekannt und neunfach vorbestraft.

Die Richterin verurteilte den Angeklagten zu einer Geldstrafe von 4 950 Euro. Ohne Geständnis hätte dem Bewährungsbrecher wohl eine Freiheitsstrafe gedroht. Das Urteil ist rechtskräftig.

Hat sie unser Rechtssystem noch alle?

Irgendwie auch in diesen Zusammenhang gehört das Chaos in den wunderbaren Datensammlungen der Polizei und anderer Behörden, die durch die G-20 Akkreditierungsentzüge bei Journalisten deutlich wurden. Und um das klarzustellen: es geht hier nicht um ein Journalistenproblem, so dass Berichterstattung Nabelschau wäre, es geht um das Problem, dass die vielen Datensammlungen anscheinend vollkommen untauglich sind. Einmal auffällig, immer auf der Liste.

Wer der Polizei auch nur einmal auffällt, bei einer Demonstration, in der Fankurve oder beim Taubenfüttern im Park, kann schon in den Datenbanken der Behörden landen. Ob ein Ermittlungsverfahren folgt oder nicht, ob der Fall vor Gericht kommt oder nicht, ob es einen Freispruch gibt oder nicht – der Eintrag bleibt. Die Betroffenen erfahren davon im Normalfall nichts. Wehren können sie sich in vielen Fällen auch nicht. Der Rechtsstaat betreibt hier ein Instrument, das mit dem Rechtsstaat nichts zu tun hat.

Ich verzweifle. Übrigens auch daran, dass nichts davon den Wahlkampf ein bisschen spannender macht. Klare Worte? Kampagnen?

Müdes Deutschland.