Es ist so unglaublich wichtig, sich mit Literatur weitab des Phantastischen zu beschäftigen um Phantastisches zu finden. So viele Geschichten, so wenig Zeit. Eine Lösung: Hörbücher. Eine andere: Kurzgeschichten. Eine Lösung: T.S. Boyles ZÄHNE UND KLAUEN, sieben Kurzgeschichten aus dem gleichnamigen Band, der 14 Geschichten umfasst. Gelesen, unfassbar lapidar und doch ausdrucksvoll von Boris Aljinovic.

Boyles Protagonisten, häufig Ich-Erzähler, sind mal mehr und mal weniger am Rand des Scheiterns und stehen vor einer Extremsituation. Häufig hat diese etwas mit der Natur zu tun, ihrer eigenen oder der da draußen hinter dem Sicherheit versprechenden Glasfenster der Wohnung oder des Autos. Lakonisch, meistens, berichtet Boyle davon, was in Grenzsituationen geschieht oder manchmal auch nur geschehen kann. Am Ende der Geschichte, und das ist der Kern einer guten Geschichte, ist nichts mehr so wie es einmal war.

Welche mich besonders beeindruckt haben: in DER FREUNDLICHE MÖRDER lässt sich ein Milife- oder auch nur allgemein Crisis-geschüttelter Radiomoderator darauf ein, den Rekord im Wachbleiben zu brechen. Dabei hat er schon vor dem offiziellen Beginn kein Auge zubekommen. Dieser Weltrekord, tage-, nächtelang ohne Schlaf, wird auf einmal zum Sinn des Lebens.
Kalt lassen kann die Geschichte CHICXULUB keinen Vater und keine Mutter, der schreckliche Moment, in dem das Telefon klingelt und die Stimme am anderen Ende der Leitung vom schweren Unfall des Kindes kündet. Eine Parallelmontage zum Einschlag des Asteroiden Chicxulub, die unter die Haut geht.
In VOM RASCHEN AUSSTERBEN DER TIERE liegt dicht neben der Firniss der Zivilisation die unbezähmbare Natur, und nur eine falsche Entscheidung macht den Unterschied zwischen Traumwochenende und Alptraum aus.

Alle Geschichten rühren an, manche auch etwas weniger wie etwa WINDSBRAUT, eine tragische, vom peitschenden Wind geprägte Geschichte von den Shettlands. Manche irritieren wie GEBLENDET, Boyles Anmerkungen zur Zerstörung der Ozonschicht  und JUBILATION, dem Versuch, aus dem Alltag ein Disneyland zu machen.

Es ist Kunst, großartige Kunst (mit übrigens zumeist wunderbaren „ersten Sätzen“. Ich bin ein Fan toller „Erster Sätze“), aber im Hintergrund kribbelt die Frage: hat Boyle nicht recht? Sind wir, gerade wenn wir älter als die hoffnungsfroh-naive Jugend sind, Herren unsres Schicksals? Und wenn nein: was könnte es uns bereit halten.

Und so müssen Kurzgeschichten sein: nicht geschwätzig, nicht fad, nicht auf eine Pointe aus, sondern auf den Kern einer guten Geschichte gerichtet: auf eine Veränderung.