Ganz ehrlich: was gibt es der Diagnose von Sascha Lobo (vom 3. März!) noch hinzuzfügen?
Mir ist inzwischen egal, ob eigentlich der kleinkleine Föderalismus, die bockige Ministerpräsidentenkonferenz, die bizarre Bürokratie, die kaputtgesparte Infrastruktur, die ständige Angst vor dem Geschrei Rechter und Rechtsextremer, die völlige Fehleinschätzung des Pandemieverlaufs, das parteipolitische Getöse zum allerfalschesten Zeitpunkt, der kreischende Schuldenbremsengeiz der GroKo oder das jahrzehntelange deutsche Digitalisierungsdebakel hinter diesem pandemischen Staatsversagen steckt. Es ist wahrscheinlich eine Mischung aus allem, ergänzt durch ein paar Überraschungsunfähigkeiten.
https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/corona-staatsversagen-in-der-pandemie-saetze-zum-ausflippen-kolumne-a-7f9519ca-1994-48c5-81eb-607efce16cf5
Und der Tagesspiegel schreibt:
Ein Staat, der mehr als 20 Millionen in eine Corona-App investiert, die zur Kontaktverfolgung nicht taugt. Unterdessen warten allein in Berlin 30 Prozent der Unternehmer im März noch auf ihre Novemberhilfen. So ein Staat sollte sich nicht wundern, dass „die Leute die Schnauze voll“ haben, wie Hessens Volker Bouffier formuliert, sondern froh sein, dass die Einzelhändler ihrem Unmut nur auf dem Rechtsweg Luft machen.
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/scheingefechte-um-grenzwerte-wenn-corona-weiterherrscht-ist-es-staatsversagen/26967296.html
Und auf den Punkt hat es Melanie Brinkmann gebracht – ich verstehe es nicht:
Melanie #Brinkmann bei #Lanz.
— wenig Worte (@wenig_worte) April 1, 2021
Über den #Corona-Irrsinn der letzten Monate.
Deutlich.
👍 pic.twitter.com/xikUZM0Xcf
Diesen Tweet mag ich auch:
Und der hier
Wenn sich selbst Apotheker wundern, dass Ihnen der Staat Apothekerpreise zahlt:
Fast man Meisten erschüttert hat mich dann die Relativierung durch den einen oder die anderen. Etwa bei Übermedien:
Am krassesten im Ton vergreift sich, wer von Staatsversagen spricht. Warum rechnet Sascha Lobo, Kolumnist beim „Spiegel“, unter der Überschrift „Staatsversagen in der Pandemie“ vor, dass das Impfen beim gegenwärtigen Tempo bis Februar 2022 dauern wird? Glaubt er im Ernst, dass das Impftempo trotz vervielfachter Liefermengen so bleiben wird wie jetzt? Oder dient die abwegige Prognose nur der düsteren Grundstimmung seiner Erzählung? Laut kassenärztlicher Vereinigung können alle Erwachsenen bis spätestens Mitte August geimpft sein.* Existiert wirklich ein substanzieller Unterschied zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Zeitplan?
https://uebermedien.de/58219/das-schimpfdesaster/
Ja, es existiert ein substantzieller Unterschied zwischen dem amerikanische und deutschen Zeitplan: in den USA wird das Tempo nämlich hart angezogen.
Und vor allem, lesen zu können würde helfen, in Lobos Artikel geht es ja nicht alleine um das unrunde Impfen, oder gar die Impfstoffbeschaffung. Dass jedes Bundesland glaubte, seine eigene Software zur Terminvereinbarung basteln zu müssen, das ist ja nur ein weiterer, furchtbarer Aspekt der ganzen Geschichte. Im letzten Absatz spricht der Autor von journalistischem Versagen. Das muss sich sein Artikel vorhalten lassen, nicht Sascha Lobo. Oder die anderen, die klar sezieren, was gerade auf allen Ebenen schiefläuft – auch wenn es manchmal durcheinandergeht.
Das eine sind die politischen Akteure auf allen Ebenen: ja, die versagen weitflächig. Aber es sind die staatlichen Strukturen, die zwei Dingen Vorschub leisten: einmal dem Verantwortungsverschieben auf jeweils andere Ebenen: zuständig ist dann je nach eigener Position: der Bund, das Land, die Kommunen, das Ministerium das einen Minister aus einer anderen Partei hat. „Task Forces“ werden gebildet und bleiben dann stumm (und wohl untätig, Herr Scheuer, Herr Spahn?). Unser System ermöglich die kollektive Unverantwortlichkeit. Und unser System ist digital immer noch blind im „Neuland“ unterwegs, immer bereit Geld auszugeben, nur: für was? Eine Gesundheitsamtssoftware, in die sich niemand einarbeiten will? Eine Corona-App, die nicht konsequent fortentwickelt wird (soll ich mal über das Tagebuch lachen?)? Schulen – ich will nicht aufschreien müssen. Alte Reflexe: Minister sonnen sich in ihrem Versagen, wenn nach 12 Monaten mal Laptops rüberwachsen, die aber frühestens im Sommer einsatzbereit sind …
Aber Relativierer des Staatsversagens auch bei Spiegel Henrik Müller wiegelt ab und wird den „Deutschen“ mentalen Krisenmodus vor. Und darum ist das alles nicht so schlimm:
Hier ist eine Vorhersage: In den kommenden Monaten wird die deutsche Wirtschaft von einem kräftigen Exportboom mitgezogen. China ist bereits im Aufschwungmodus; die USA schieben mit dem größten Konjunkturpaket in Friedenszeiten die Konjunktur an. Deutschlands Industrie wird davon profitieren. (Achten Sie Freitag auf Neuigkeiten vom Ifo-Geschäftsklimaindex.) Mit fortschreitenden Impfungen werden im Jahresverlauf mehr und mehr Wirtschaftsbereiche vom Aufschwung erfasst, prognostiziert das Institut für Weltwirtschaft.
https://www.spiegel.de/wirtschaft/staatsversagen-in-der-pandemie-bekaempfung-wir-koennen-alles-ausser-corona-a-c103044d-e3a2-46b1-af21-0a27250d4f40
Witzig, wie viele Menschen noch auf Intensivstationen müssen, sterben, LongCovid-Folgen haben, und vor allem kleine Unternehmen pleite gehen – das spielt ja keine Rolle. Hauptsache: die Industrie wird profitieren. Vollkommen abgelöst von jeder realistischen Einordnung der bestehenden Beharrungskräfte schwurbelt Müller dann davon:
Gute Voraussetzungen für eine umfassende Verwaltungs- und Verfassungsreform, die Konsequenzen aus der Coronakrise zieht und diesem öffentlichen Sektor eine Grundüberholung verpasst, eine »Agenda 2030«, die den komplexen Föderalismus entschlackt und effektiver mit der EU als zunehmend wichtigerer überstaatlicher Ebene verzahnt (achten Sie Donnerstag und Freitag auf den EU-Gipfel). Es geht, wie gesagt, um eine Veränderung des Mindsets – in den Verwaltungen, aber auch bei uns Verwalteten. Die nächste Bundesregierung wird einiges zu tun haben.
ebd.
In welchem Land hat Müller bisher gelebt? Ich sage: wer nur auf „die Industrie“ schaut, der wird auch nicht erleben, dass dieses System sich einfach mal so, weil gerade „war da was“ war bessert.
Dann kann der Italien-Korrespondent noch beitragen, dass Deutschland doch glücklich sein dürfe, in der Pandemie-Behandlung im Mittelfeld zu sein. Hurra, europäisches Mittelfeld, da bin ich aber froh.
Die NZZ sieht diese mediale Genügsamkeit für die Schweiz auch eher – skeptisch. Es liest sich so vertraut:
Die Schweiz hat derzeit eine tiefere Impfrate als Serbien, Malta oder die Türkei. Mit Ländern wie Israel, Grossbritannien und den USA müssen wir uns gar nicht erst vergleichen. Das Bundesamt für Gesundheit hat im vergangenen Jahr zwar auf die richtigen Impfstoffe gesetzt, doch seither ist der Wurm drin. Die Impfkampagne kam nur stotternd in Gang und verspätet sich nun. Das Tracing ist gar nie richtig angelaufen. Die Kantone, die dafür verantwortlich waren, schafften es nicht, sich auf ein System zu einigen. Lieber bastelten sie an eigenen Lösungen. Wahre Föderalisten haben eigene Schnittstellen zum Bundesamt für Gesundheit (BAG).
https://www.nzz.ch/meinung/die-schweiz-ist-auch-in-der-krise-nur-durchschnitt-ld.1609762
Ich bin sauer, ich bin skeptisch, ich will keine Beschwichtigung mehr hören.
Nachtrag: aus der WDR/Quarks-Redaktion.
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