Ich finde es richtig, dass wir Journalisten uns tagtäglich Gedanken darüber machen, ob wir mit unseren Mitteln, vor allem der Sprache, aber auch Bildern und Geräuschen, O-Tönen und Musik sowie der Komposition derselben, die Wirklichkeit adäquat abbilden.
Dazu gehört Sprachkritik an Floskeln und Wörtern. Per se: eine gute Sache.
Allerdings nervt mich zunehmend der belehrende allwissende katheterliche Tonfall der ein oder anderen Publikation, wenn möglich noch mit „!“ Ausrufezeichen. Etwa bei „Im Toten Winkel der Sprache“ im Neues Deutschland.
Häufig wird abwägend von „sollten wir überdenken“ „sollten weitgehend verzichten“ „nur aus guten Gründen gebrauchen“ „aus dem Gebrauch von Journalisten entfernen“ geredet, und immer dann, wenn man auf dieses Wording trifft, könnte das eine Anregung zum Nachenken sein oder eine Diskussion anstoßen. Wie in sprachlichen Fragen aber meistens ist gar keine Diskussion erwünscht, es geht um das Verfügen eines Sprachtabus. So auch hier:
Muss. Entfernt. Werden.
Eliminert, ausgeschaltet, aus dem Sprachschatz getilgt, vernichtet werden.
Muss!
Der Artikel ist hinter einer Paywall, das „Altpapier“ vom 24.9. bzw. der Autor René Martens findet das Anliegen aber so super, dass die Zwischenüberschrift zum Link nicht ohne Ausrufezeichen auskommt:
Es gibt keine „Unfälle“ im Straßenverkehr!
Q.e.d.
Das ganze ist, ihm zu Folge, ein „wichtiger sprachkritischer Impuls“. Er zitiert aus dem Artikel:
„(Die) absurde Verwendung des Wortes ‚Unfall‘ verschleiert die Todesursache: dass jedes Todesopfer im Verkehr daran stirbt, dass jemand zu schnell oder unter Alkoholeinfluss gefahren ist, während der Fahrt Mitteilungen verschickt oder auf andere Weise die Tragödie verursacht hat.“
Ist das so? Oder hängt der nd-Autor nicht der beliebten Fiktion nach, dass es immer „einen Schuldigen“ geben müsste? Immer? Und stimmt das mit der Alltagserfahrung überein? Mit meiner nicht. Da kommen zu einem Unfall gerne mehrere Faktoren zusammen: die genommene Vorfahrt durch den einen Verkehrsteilnehmer mit der zu hohen Geschwindigkeit des anderen. Beispielsweise. Monokausale Erklärungen sind gerade bei Verschwörungstheorien hipp, aber das ist nicht immer die Wirklichkeit. Ich will keine Mitschuld des beim Rechtsabiegen getöteten Radfahrers konstruieren, es gibt auch eindeutige Fälle. Aber genügt das, mit einem „Muss“ das Wort Unfall zu streichen? Vor allem wenn der Journalist ja ad hoc mal entscheiden soll, wer denn schuld ist:
Alles verschwindet im toten Winkel der Sprache, wenn das Wort ‚Unfall‘ zur Routine wird. Diese Apathie verwundert: Flugzeuge stürzen ab, Schiffe havarieren. Nur auf unseren Straßen ist alles offenbar Gotteswille, sind alle Gesetze der Physik aufgehoben. Die Bezeichnung ‚Verkehrsunfall‘ signalisiert, dass nichts und niemand wirklich Schuld an einem Zusammenstoß hatte.
Ganz ehrlich, die Nummer mit dem Flugzeug und dem Schiff verstehe ich sprachkritisch gesehen nicht, denn „Flugzeuge stürzen ab“ ist ja gerade keine präzise Beschreibung. Wir kennen den vorsätzlich herbeigfeführten Absturz der Germanwings-Maschine und den Abschuss der MH17. Technische Defekte. Pilotenfehler. Vielleicht hat sich der Autor da verrannt und keiner hat es gemerkt.
Das Wort „Unfall“ signalisiert nicht, dass keiner Schuld sei, ist aber Hinweis darauf, dass man zum Zeitpunkt der Berichterstattung noch nicht genau weiß, was passiert ist. Und sich der Journalist auch nicht vorweggenommen zum Richter macht.
Die Wortbedeutung „Ereignis, bei dem jemand verletzt oder getötet wird oder materieller Schaden entsteht“ ist doch nicht falsch.
In Wirklichkeit, wie so oft, steckt hinter dem „wichtigen sprachkritischen Impuls“ die Lust an der Belehrung und ein ideologisches Motiv: Böser Verkehr. Böser Autofahrer. Böse. Böse. Böse.
Man muss jetzt nicht jeden Versuch, journalistische Sprache zu verändern richtig finden.
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