Ich verlinke mal zwei Texte, die ich in der letzten Zeit mit Gewinn zum Thema Angriff auf die Ukraine gelesen habe.
Über die manifesten Putinfreundinnen oder besser: Antiamerikanerinnen muss man nicht viel schreiben, auch wenn das alle tun. Wenn beim SPIEGEL Frau Rennefanz „Hexenjagd“ schreit, beweist das nur, dass sie keine Ahnung von echten Hexenjagden hat. Aber neigen wir nicht alle zum rhetorischen Übergeigen? Daher rudere ich zurück: wenig Ahnung von Hexenjagden zu haben scheint. Im Umfeld des Manifests hat sich auch Jürgen Habermas zum Thema Verhandlungen für einen Waffenstillstand geäußert. Wird an diesem Beitrag Kritik geübt heißt es auch bald, dass man wohl gar nichts mehr sagen dürfe. Und das in einer Welt, in der so viel sanktionslos gesagt wird.
Durchaus respektvoll gegenüber dem Autor, aber klar kritisch gegenüber dem Text haben Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie eine Analyse für die taz geschrieben. Nüchterner Titel: „Habermas unterschlägt die Risiken„.
Sein Votum läuft, wie diverse „offene Briefe“, darauf hinaus, die Annexion der Krim zu bestätigen und Geländegewinne der russischen Armee im Donbass hinzunehmen. Dank dieser neuen Grenzziehung sei „nicht von vornherein auszuschließen, dass auch für die einstweilen einander diametral entgegengesetzten Forderungen ein für beide Seiten gesichtswahrender Kompromiss gefunden werden könnte“, meint Habermas. Nichts, aber rein gar nichts deutet darauf hin. Über tote Russen trauert nur die hiesige Friedensbewegung, dem Kreml sind sie völlig gleichgültig.
ebd.
Aufschlussreich für mich war auch ein Interview mit Jan C. Behrends. Ausgehend davon, dass wir es mit einem imperialen Krieg in Europa zu tun haben, stellt sich die Frage: warum wird der in Deutschland mit so viel Verständnis für die Großmachts-Ansprüche und angebliche Bedrängung Russlands durch „den Westen“ gesehen, und warum fehlt es an der Empathie für die überfallenen Ukrainer in manchen Kreisen und Schichten?
Nach zwei verlorenen Weltkriegen können viele in Deutschland sich gar nicht mehr vorstellen, dass man Kriege auch gewinnen kann – nach 1871 konnte man sich das in Deutschland noch ganz gut vorstellen, da dachte man, dass Deutschland jeden Krieg gewinnt. Das ist gewissermaßen von einem Extrem ins andere gekippt. Zu den negativen Erfahrungen mit Krieg kommen die weniger negativen Erfahrungen mit der Besatzung. Das wird in Deutschland häufig nicht gesehen: dass Besatzung für die Ukraine etwas ganz anderes ist, als die Besatzung durch die Amerikaner oder Briten nach 1945 für Westdeutsche war. Für die Ukraine bedeutet Besatzung nicht das Ende des Kriegs, sondern den Beginn des Terrors gegen die Zivilbevölkerung.
https://www.n-tv.de/politik/Russland-ist-ein-in-Aufloesung-befindliches-Imperium-article23928256.html
Außerdem fürchte ich, dass wir keinen so emphatischen Freiheitsbegriff haben wie Polen, Frankreich, die Ukraine oder die USA. Deutschland ist von außen vom Nationalsozialismus befreit worden. Dass man gegen Tyrannei, gegen äußere Aggression und für nationale Selbstbestimmung zur Waffe greifen kann, ist in anderen Ländern eine viel stärkere Selbstverständlichkeit. In Deutschland ist es in bestimmten Kreisen dagegen völlig legitim, genau dies anzuzweifeln.
Wie viel hat Deutschland, haben die Deutschen selbst dafür getan, eine im Westen verankerte, von Verbündeten umgebene Demokratie zu werden? In weiten Teilen waren die Weimarer und Bonner Republik doch ein Elitenprojekt, erstere kam dann auch schnell in Schlingern und ging unter, die zweite wurde befördert durch den wachsamen Blick der Westmächte. In Ostdeutschland ging dann auch nur eine kleine Minderheit wirklich auf die Straße, und einer Masse war die D-Mark näher als die Demokratie.
Zugespitzt, ja, auch hier. Aber was bedeutet es denn, wenn Länder in der Geschichte Angreifer niedergerungen und zurückgeschlagen haben, wenn es Widerstand und Resistance geben musste? Was macht das mit kollektiven Vorstellungen vom Recht auf Selbstverteidigung und Notwehr?
Foto von Ahmed Zalabany auf Unsplash