Studien sind die Füller der Leerstellen im journalistischen Raum. Trägt ein Papier den Titel Studie, und sind die Inhalte a. kurios, b. abseitig oder c. irgendwie unterhaltsam, dann sind die Chancen gut, als Studie des Tages durchs Dorf getrieben zu werden. Das ist kein Phänomen dieses schrecklichen Internet-Zeitalters – das war schon immer so. Oh, wie wäre es noch mit d. schockierend.
Also schockierend. Zum aktuell Schockigsten nur ein paar Anmerkungen: Die Welt schreibt „SCHOCK-PROGNOSE 27.05.16 Deutsche müssen sich auf Rente mit 73 einstellen“ (Ich warne hiermit ausdrücklich vor diesem Link und dem besch.. selbststartenden Video. Es ist zum Kotzen!)
1. Pseudoinvestigativ
Ich liebe solche Absätze:
Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) wartet jetzt mit einer neuen Schock-Prognose auf. Demnach müssen sich die Deutschen darauf einstellen, künftig erst mit 73 Jahren in Rente gehen zu können. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse, die der „Welt“ exklusiv vorliegt.
Was heißt denn nun dieses „die der „Welt“ exklusiv vorliegt“? Ist das eine wunderbare journalistische Leistung? Ein echter bewundernswerter Scoop? Gnadenlos investigativ? Etwas, worauf man sich etwas einbilden kann, weswegen man es auch in den ersten Absätzen eines Beitrags unterbringt?
Ach was. Wie in allzuvielen Fällen hat sich doch das IW ein Medium ausgesucht, mit dem es auf einer Wellenlänge liegt und das groß genug ist, um mediale Aufmerksamkeit zu bekommen.
Anruf IW :“Wir haben da was, wollt ihr?“
Redakteur: „Na klar, her damit.“
IW: „Aber nicht zuviel dran rumpfuschen.“
Redakteur: „Machen wir nicht, ihr habt ja immer recht.“
Schwupps. „Exklusiv“.
Und warum eigentlich
Demnach müssen sich die Deutschen darauf einstellen, künftig erst mit 73 Jahren in Rente gehen zu können.
Das gälte doch nur dann, wenn „die Politik“ genau das macht, was das IW will. Okay, es gibt Anhaltspunkte, warum das so sein könnte, doch vielleicht kommt es ausnahmsweise nochmal anders.
2. Demografischer Faktor
Die Hochrechnungen beschäftigen sich mal wieder mit dem doch in deutlicher Entfernung liegenden Jahr 2050 – es sind also noch 34 Jahre bis dorthin zurückzulegen. Daher sind alle diese Studien a. mit Skepsis zu betrachten und b. besonders gründlich auf ihre Grundannahmen zu überprüfen. Das ist übrigens dann besonders schwierig, wenn die „Studie“ der „Welt“ „exklusiv“ vorliegt, also nicht verlinkt ist, um sich einen eigenen Eindruck dazu zu verschaffen. Der daher nur oberflächliche Eindruck ist bei mir nun, mangels Möglichkeit zur Nachprüfung: Einwanderung spielt in dieser Betrachtung keine echte Rolle. Stattdessen gibt es anscheinend nur eine Möglichkeit, ein ganz bestimmtes Ziel zu erreichen:
Damit nicht immer mehr Rentner von immer weniger Erwerbstätigen „durchgefüttert“ werden müssen, muss der Pool der aktiv Arbeitenden vergrößert werden,
nämlich die Rente mit 73.
Die Formulierung „durchgefüttert“ ist übrigens, ob mit Anführungszeichen oder ohne, eine gelinde Frechheit – die „Durchgefütterten“ haben lange für Rentner einbezahlt und Ansprüche erworben, es geht hier als mitnichten um ein „Gnadenbrot“. Ob den „Redakteuren“ Nando Sommerfeld (keine biografischen Angaben) und Holger Zschäpitz (geb. 71,) eigentlich klar ist, was sie da schreiben oder abschreiben?
In die gleiche Kategorie gehört übrigens das Geschwafel von den angeblichen „Wohltaten“ der Politik für Rentner (Dass dieser Artikel mich zwingt, so viele Anführungszeichen zu benutzen, lässt mich schier verzweifeln …). Eine davon:
Außerdem steht Deutschlands Rentnern im Juli die stärkste Rentenerhöhung seit 23 Jahren bevor. Die Renten werden im Westen der Republik um 4,25 Prozent steigen, im Osten sogar um 5,95 Prozent. Dabei muss der Bund die Rentenkasse schon jetzt jährlich mit rund 86 Milliarden Euro alimentieren. Geht es in diesem Tempo weiter, dürfte 2020 wohl die 100-Milliarden-Marke geknackt werden.
Meine Lieben: Das ist die Folge von Reallohnsteigerungen und in der Rentenformel, an der überraschenderweise seit geraumer Zeit nicht mehr (!) geschraubt wurde, festgeschrieben. Man darf diese Rentenerhöhung mal ruhig mit den lächerlichen Rentensteigerungen der letzten Jahre, die durchaus unter der Inflationsrate lagen, gegenrechnen. Das einzige, was man daran „Wohltat“ nennen darf, ist dass diesmal niemand an die Rentenformel herangegangen ist. Das „geht es in diesem Tempo weiter“ wäre undramatisch, da dann auch die Reallöhne steigen und damit die Steuereinnahmen. Es werden jetzt schon Überschüsse erreicht. Weshalb dieser Jammer?
3. Nur ganz kurz der Grund für den Schock
Hmm, warum ist das alles nur so schockierend, und ist das Arbeiten bis 73 „alternativlos“?
Ist es natürlich nicht. Die Grundbedingung für das Schockierende wird allerdings eher nebenbei verkauft, wenn man das Rentensystem schon für untauglich hält. Da heißt es im O-Ton:
„Um die Beitragssätze konstant zu halten, muss das Renteneintrittsalter stark ansteigen“, sagt Susanne Kochskämper, Autorin der Studie.
Genau. Das ist des Pudels Kern, der aber einmal nur, und das quasi als Fußnote, genannt wird. Es geht um die Höhe des Beitragssatzes. Und warum nur darf dieser nicht steigen (während ansonsten ja mit jeder Menge Nebelkerzen geworfen wird)?
Damit komme ich zum journalistischen Pfui an der Angelegenheit: Das Wort „Ökonom“ (Seelenverwandt mit „Hohepriester“) kommt ganz häufig im Text vor, das Wort „arbeitgebernah“, das zwingend zu jedem Beitrag gehört, in dem das „Institut der Deutschen Wirtschaft“ genannt wird, nicht einmal!
Und natürlich sind es vorrangig die Arbeitgeber, die ein gesteigertes Interesse daran haben, dass sich am Beitragssatz nichts ändert. Aus der solidarischen Finanzierung steigender Gesundheitsausgaben haben sie sich schon verabschiedet, im Prinzip gilt das bei der Rente auch, da man das „riestern“ ganz dem Bürger und dem Staat überlassen hat. Jetzt möchte man aber eher ungerne an den Kosten steigender Rentenansprüche beteiligt werden. Das steht hinter der Veröffentlichung, dem ganzen trickreichen Rumgerechne, und die „Welt“ darf „Exklusiv“ davon schweigen,
Manchmal ist es so traurig.