Als eines der „Erfolgsrezepte“ zur Rettung des Lokaljournalismus gilt ja: die globalen Themen auf das Lokale, für den Leser erfahrbare herunterbrechen.
Ich kann das zunächst nicht schlecht heißen, denn der Charme liegt ja in der Verknüpfung, die vielleicht auch abgehobene Themen „erden“ kann, von einer abstrakten Ebene auf eine ganz praktische.
Allerdings, so mein Eindruck: wenn diese Art der Themenfindung Oberhand gewinnt, gerade auch weil Journalisten von der Wichtigkeit der großen Themen überzeugt sind, dann kommt schnell eine Unwucht zu Stande, weil die drängenden lokalen Probleme auf einmal so klein wirken. Etwa das alltägliche, seit Jahren anhaltende und strukturell in Politik- und Verwaltungsversagen begründet liegende Verkehrschaos in Darmstadt.
Aber Plastik/Müll/und Gedöns sind für Journalisten wohl subjektiv „wichtigere“ Themen, daher drangsaliert mich auch mein Lokalblatt Darmstädter Echo regelmäßig auf den lokalen Seiten mit dem Thema.
Vergangene Woche (27.4.) unter dem anklagenden Titel „Wir Müllmacher“ viel Zahlengehube. Die Titelseite des zweiten Buches, des Lokalteils Darmstadt, mit einem großen Bild und einem Text, der staubtrocken daherkommt und den Lokalbezug dadurch bekommt, dass die Autorin wohl mit sage und schreibe drei Menschen aus der Gegend telefoniert hat (Sachgebietsleiter Abfallwirtschaft EAD, Pressesprecher Alba, Umweltdezernentin). Dazu wurden ein paar Statistiken gelesen und eingebaut. Fertig ist eine weitere Perle des Lokalzeitungsjournalismus.
Allerdings geht Lokales nicht mehr ohne „Kommentar“ der Artikelautorin/des -autors. In aller Regel ohne jeden weiteren Erkenntnisgewinn muss zwanghaft als „Meinung“ nochmal der Kurzinhalt des Artikels und der möglichst naheliegende Schluss aus dem Artikel gezogen werden – in der Dopplung im einfachsten Fall überflüssig, im schlimmsten ärgerlich.
Also muss die Autorin noch die Zeilen der Spalte „Zur Sache“ füllen:
So, jetzt geht’s ans eingemachte, meine Lieblingspressemeldung des Umweltbundesamtes kommt wieder zu Ehren. (Schon Thema hier, hier und hier)
Erstmal steht da in einem Satz „Plastikabfall“ um dann wieder irreführend zu schreiben:
Laut Umweltbundesamt haben wir 2016 insgesamt 18,16 Millionen Tonnen Verpackungen weggeschmissen. Allein aus Privathaushalten stammen 5,5 Millionen Tonnen Verpackungen, stolze 220 Kilogramm pro Person.
Artikel „Abfall-Irrsinn“, Darmstädter Echo 29.4.2019
Das ist jetzt wieder so verrutscht. Immerhin die erste Tatsachenbehauptung (18,16 Mio to.) stimmt. Der nächste Satz ist dann wieder komplett falsch:
Ich weiß nicht, woher hier 5,5 Millionen Tonnen herkommen. In der Meldung steht:
Der Anteil von privaten Endverbrauchern an der Gesamtmenge betrug 47 Prozent (insgesamt 8,52 Millionen Tonnen).
https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/verpackungsverbrauch-in-deutschland-weiterhin-sehr
In der Kombination mit „Allein aus Privathaushalten stammen 5,5 Millionen Tonnen Verpackungen, stolze 220 Kilogramm pro Person. “ ist das nur noch Gaga.
- Die 220 kg pro Person stammt aus der Gesamtbetrachtung allen Abfalls, umgerechnet pro Kopf.
- Der Anteil der Privathaushalte ist 47 Prozent. Kommen wir auf rund 105 kg/Person. Nicht nur Plastik. Gesamt-Verpackungsabfall.
- Die 5,5 Mio. hätten jeden Korrekturleser skeptisch machen sollen, selbst wenn man vereinfacht von rund 80 Mio. Einwohnern Deutschlands ausgeht, sind das 5.500.000.000 kg (!) geteilt durch 80.000.000 = 68,75 kg.
Ich bin genervt. Ihr vielleicht auch. Ich kann mit diesem Journalismus nichts anfangen. Ich schrieb an die Autorin, fragte nach, woher sie ihre Zahlen hat und ob sie sich da nicht verrechnet hat.
Ihre Antwort:
haben Sie herzlichen Dank für Ihre Nachricht. In der Tat beziehe ich mich auf die unten genannte Mitteilung des Umweltbundesamtes. Zudem habe ich zur Recherche auch Zahlen unter anderem vom Statistischen Bundesamt und dem BUND etc. herangezogen. Ob mir beim Vergleich bzw. Verrechnen ein Fehler unterlaufen ist, prüfe ich selbstverständlich noch mal in meinen Unterlagen nach. Unstrittig bleibt aber der Fakt: Wir produzieren viel zu viel (Verpackungs-)Müll.
Das war am 30.4., danach habe ich nichts mehr gehört. Ich rechne auch ganz sicher nicht damit, dass irgendeine Korrektur (würde die Echo-Leser nur verunsichern) erscheinen wird.
Mich erschüttert am meisten der Satz „Unstrittig bleibt aber der Fakt: Wir produzieren viel zu viel (Verpackungs-)Müll.“
Dann ist ja alles gut, dann sollten wir die Fakten aus den Artikeln rauslassen, wenn das so unstrittig ist. Das ist unstrittig Meinungsjournalismus, der dann aber nicht den Eindruck erwecken sollte, Journalismus zu sein. Journalismus, der versucht Zahlen, Daten, Fakten zu erfassen, einzuordnen und erst dann zu bewerten. Hier kommt die „unstrittige“ Bewertung zuerst, danach …
Unbewusst wissen das Leser, Hörer und Zuschauer. Dass manchmal weniger die Fakten denn die „unstrittigen Fakt(en)“ zählen.