Ich habe schon länger nicht mehr über Dokus geschrieben, die mir gefallen haben, obwohl es da schon Sachen gab.
Ich habe gerne Netflix Serie „Quarterback“ gesehen, die das Glück hatte, die für alle drei Protagonisten irre NFL-Saison 22/23 nachzuzeichnen. Mit dem späteren Superbowl-Champion Patrick Mahomes, dem immer umstrittenen Kirk Cousins und die Wahnsinns-Saison der Vikings mit vielen knappen Spielen und einem neuen Rekord beim Aufholen von Rückständen in der NFL. Und Marcus Mariota, dessen Karriere mal wieder am seidenen Faden hing. Und der dann plötzlich …
Hat mir gut gefallen, weil einem der Job und die Herausforderungen ganz deutlich wurden: der Druck, die Verletzungen, das Geld, das Adrenalin. Wer American Football mag, der sollte schauen
Aber jetzt zu etwas vollkommen anderem.
Es geht um eine Mannschaft aus Wales. In der fünften Liga. Früher durchaus glänzend. Heute verzweifelt ums überleben kämpfend.
Es geht um Ryan Reynolds und Rob McElhenney, die mitten in der Corona Zeit beschließen, in diesen Verein zu investieren. Und die Mitglieder stimmen dem zu.
Es geht um Wrexham und seine Menschen. Auch die Stadt: früher glänzend, jetzt post-industriell, abgehängt. Es geht um Fans, das Proletariat, die Spieler, gerade mal so Profis, um Kids und Jugendliche, Hools, Senioren und Seniorinnen. Die Beauftragte für die Belange für Menschen mit Handicap. Den Pubbesitzer vor der Tür des Stadions. Die Auswärtsfahrten. Altes und neues Management.
Ja, es geht um Fußball, und die Dramaturgie ist natürlich alleine schon bestechend: werden die zwei Jungs mit der Knete es schaffen, neue Hoffnung in die Stadt und ins Stadion zu bringen? Zu welchem Preis? Es gibt Niederlagen, Niederlagen und Unentschieden. Und Siege, späte, schmutzige, glückliche. Was Fußball so macht. Prinzipiell gilt für Sport (-Dokus): Das spannende ist ja, dass man vorher nicht sagen kann wie es ausgeht. Und selbst für die, die den Ausgang schon kennen: erzähle, wie es passiert ist. Hautnah, dabei.
Aber hier geht es zu mehr als 50 Prozent um die Menschen von Wrexham, und deren Schicksal. Es geht um Hoffnung und Träume, um Familie, Schwangerschaften und dramatisches Scheitern, auf dem Platz, und daneben. Um Schicksal, Glück und Unglück. Um eine Polizistin, die wegen ihres Hooligan-Freundes den Check nicht schafft und nicht zur Kripo wechseln darf. Um die Community, aber auch durchaus den Hass, den Fans entwickeln können, wenn es mal schlecht läuft. Und oft: Drama. Vor allem in Folge 12, Gewinne und Verluste. Das ist – wow. Das Leben.
Die Briten sind bei Portraits der einfachen Menschen, der Arbeiter:innen, der Arbeitslosen, der Randfiguren unserem Blick so weit voraus. Unsentimental aber nicht ohne Empathie. Geht das, Deutschland?
Und die Macher haben nicht einfach, wie etwa bei Quarterback, viele Kameras aufgestellt und Statements gesammelt, waren nicht nur in der Kabine dabei. Nein, sie haben viele Ideen entwickelt, wie das abwechslungsreich ist. Etwa wenn sie den „Enthusiasmus-Counter“ für Team-Manager Phil Parkinson laufen lassen, bei dem jedes „Fuck“ hochzählt. Sie machen eine Folge „Die weite Welt von Wales“ um dem US-Publikum Background zu geben. Sie übersetzen Walisisch in Englisch in US-Amerikanisch (und schneiden da enervierend die Musik brutal ab – das wäre bei uns nie durch die Technische Endabnahme gekommen …)
Für mich das großartigste Fernsehen des Jahres (ja, late to the party, deal with it). Ich versuchte mich verzweifelt nicht spoilern zu lassen, hatte aber keine Chance.
Also: entfolgt Ryan Reynolds, blendet alle Nachrichten aus – und fangt an, Wrexham und seine Menschen lieben zu lernen.
Bild: KI/Midjourney (Ich zeig euch nicht die Variationen, aber Midjourney hat keine Ahnung von Fußball. Null.)