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Ich empfehle zur geneigten Lektüre für das Jahr 2022 zwei Interviews, zwei Interviews mit Politikern von B90/Grüne, die in ihrer eigenen Partei nicht unumstritten sind, dafür aber bei Wahlen recht erfolgreich waren.

Palmer

Das erste mit dem doch sehr anstrengenden Boris Palmer. Es ist deswegen lesenswert, weil die Sperenzchen, mit denen er sonst so in die Schlagzeilen gerät, in den Hintergrund treten und ich endlich ein bisschen mehr über Kommunalpolitik, die er verantwortet, erfahre. Und seinen Blick auf das „Politische“, also die Anstrengung, für einem wichtige Themen und Entscheidungen am Ende auch Mehrheiten zu finden. Denn das, und nicht „die Wissenschaft“ oder moralische Überlegenheit führt in der Demokratie zu Änderungen. Hier ein Straße weniger, da ein Radweg mehr. Und dabei Mehrheiten organisieren. Und zwar auf der politischen Ebene, auf die man Einfluss nehmen kann.

In der Klimapolitik gibt es ein sehr beliebtes Spiel. Man verweist auf die EU, auf die Weltklimakonferenz, auf die Chinesen. Und dann ist die Aufgabe woanders und niemand erledigt sie. Es geht darum, selber anzupacken. Und das geht auf der kommunalen Ebene durchaus. Wir haben zum Glück in Deutschland starke Kommunen, garantierte Selbstverwaltung – und dadurch lassen sich Entscheidungen zugunsten des Klimas treffen. Es lassen sich aber auch Entscheidungen zuungunsten des Klimas treffen. 

https://taz.de/Boris-Palmer-im-taz-FUTURZWEI-Gespraech/!5824245/

Ich empfehle das ganze Interview, bleibt nicht bei den Brocken, die ich Euch hier hinwerfen mag.

(..) das grundsätzliche Problem ist doch: Wenn man über die Notwendigkeit von Klimaschutz und Klimaschutzpolitik spricht, spricht man fast automatisch trivialpädagogisch. Und es ist zwar schön, sich einzureden, dass man jetzt selber einen entscheidenden Beitrag zur Rettung des Weltklimas leistet, aber bei genauerer Überlegung kommt man dann ganz schnell an die Endlichkeit des eigenen Einflussbereichs und kann dann verzweifeln, weil es ja eigentlich eben doch die Chinesen sind. Deshalb ist das Beste pragmatisches Herangehen an Aufgaben, die sich ohnehin stellen und bei denen man auch Vorteile für das eigene Gemeinwesen gut begründen kann.

ebd.

Machen, mitnehmen, eine Vorteilsrechung aufmachen und nicht nur Symbolaktionen lancieren. Das gehört zu den Dingen, die ich den Grünen etwa hier in Darmstadt ins Stammbuch schreiben würden: man könnte erstmal aufhören Fahrräder auf Straßen zu malen ( die keinerlei Bedeutung haben) oder Fahrspuren zu reduzieren (was herrlich staut oder einen davon abhält, Darmstadt als Ziel zu sehen) bevor man nicht die Alternativen aufbaut, etwa den ÖPNV nachhaltig attraktiver macht. Es besteht ja die fatale Neigung, erst die Restriktionen aufzubauen und viel später die komplementären Angebote zu machen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: hat der ÖPNV eine attraktive Preisstruktur, umfassende Linienangebote und kurze Takte, dann, aber erst dann kann man beginnen das Auto effektiv zu verdrängen. Andersherum wird es bald schmerzhafte Niederlagen geben.

Und das hier fand ich sehr clever:

Und da man als Bürgermeister viele Leute auch persönlich kennt, muss man sich eines klarmachen: Wenn ich immer alles hinkriege, was ich will, dann heißt das für andere Leute, dass die sehr selten kriegen, was sie wollen. Insofern ist es auch hilfreich, wenn ich nicht erfolgreich bin, denn dann hat jemand anderes den Erfolg, und das zahlt sich für die Gemeinschaft aus.

ebd.

Kretschmann

Wenn sich der „journalist, GF Welt“ (WTF, Anm. der Red.) über per Zitatgrafik verteilte Interviewschnipsel aufregt, dann muss ja was Schlimmes passiert sein. Oder eben auch nicht. In der taz das Interview mit Winfried Kretschmann, der sehr klar über die Grenzen der individuellen Freiheit spricht und „bürgerliche Pflichten“ anführt. Die Balance: ein schwierig Ding. Deshalb ein spannendes Interview.

Ich will dem Hegel mal den Kant gegenüberstellen. Er hat ja drei Maximen des gemeinen Menschenverstands aufgestellt. Die erste ist bekannt: „Selber denken.“ Die zweite lautet: „Den anderen denken.“ Das meint also, sich in den Standpunkt des anderen hineinzuversetzen. Und die dritte heißt: „Mit sich in Übereinstimmung denken“ – also selbstreflexiv die Widersprüche in eigenem Verhalten und Denken aufzuspüren.

https://taz.de/Kretschmann-ueber-Klima-und-Pandemie/!5817676/

Im philosophischen Diskurs zum Wesen der Freiheit ist ein bisschen untergegangen, dass Kretschmann endlich das Wahlergebnis der Grünen als krachende Niederlage bezeichnet. Die Partei schaut, nicht falsch, gerne nach vorne. Aber ein bisschen Aufarbeitung täte der Führung doch ganz gut:

Wie lautet denn Ihre Wahlanalyse, wenn es schon sonst keiner macht? Wenn ich Kanzlerin oder Kanzler werden will, das gilt für Union, SPD und Grüne, dann muss ich ein Angebot für die Gesamtheit machen und nicht nur für die eigene Wählerschaft.
Hat die Bundespartei den Unterschied kapiert? Wie Sie gesagt haben: Die eine Hälfte hat’s erkannt, die andere nicht. Aber so genau weiß ich es nicht, die Analyse ist ja nicht gemacht worden. Aber das hat auch gute Gründe, denn nach der Wahl muss man schauen, dass man eine Koalition hinbekommt, dann muss man schauen, dass man das Programm umgesetzt bekommt, da hat niemand Lust und Zeit, Niederlagen zu debattieren. Meine Erfahrung ist, dass Parteien das nicht machen.

ebd

Beim Interviewer Peter Unfried rennt er damit offene Türen ein, Dessen Vorschau auf 2022 – ist jetzt weniger pessimistisch als der meine wäre.

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