„Mögest Du in interessanten Zeiten leben“ wird als chinesischer Fluch gehandelt, und sicherlich leben wir in interessanten Zeiten. Denn überm Atlantik hat ein Regime den Kampf um die Fakten und die Deutungshoheit aufgenommen, ohne Rücksicht auf Verluste. Und hierzulande sind viele Journalisten und Medien in berechtigter Aufregung darüber.

Mit „Alternativen Fakten“ haben wir es aber auch immer wieder hierzulande zu tun, kein Wunder, denn im September wird der Bundestag gewählt, und davon das ein oder andere Landesparlament, am Wichtigsten sicher das in NRW.

In einem Kommentar am 23.1. in der FAZ und verkürzt im Netz mahnt FAZ-Redakteur Reinhard Müller vor dem Erstarken der Rechtpopulisten. Online heißt es

 (Die „sprechende“ URL verrät übrigens, dass der Autor seinen gereckten Zeigefinger eigentlich nur der SPD hinstrecken wollte – WordPress-Besitzer, die nachträglich die Überschrift ändern, kennen das:

)

Zurück zum Thema. Müller kann nur schwer verstehen, weshalb Rechtspopulisten Zulauf haben, und sieht an und für sich Deutschland sicher gegenüber einer Trumpisierung, denn in Deutschland fehle es an den Voraussetzungen „eines solchen Siegeszugs“ nämlich einer „tief gespaltene(n) Gesellschaft und eine(r) skrupellose demagogische Führungsfigur.“

Es ist paradox: Der insgesamt recht große Wohlstand und die relativ geringe Ungleichheit, also die gesellschaftliche Stabilität, führt zum Ruf nach einem „Erwachen“ aus der angeblich gleichgeschalteten politischen Landschaft.

Hallo? Die relativ geringe Ungleichheit?

Die Zeiten, in denen geleugnet wurde, dass die deutsche Gesellschaft sich in einer bedrohlichen Schieflage befindet, sollten doch vorbei sein. Selbst in der FAZ, wenn auch nur in einem „Gastbeitrag“ ist das Thema doch angekommen:

In den letzten 15 Jahren hat sich nicht nur das Produktionsmodell in der deutschen Hochproduktivitätsökonomie verändert, es ist auch ein neues Proletariat in Deutschland entstanden. Die politische Maxime, jede Arbeit ist besser als keine Arbeit, hat zusammen mit dem Kostenreduktionsmodell der Fremdvergabe einfacher Dienstleistungen dazu geführt, dass 12 bis 14 Prozent der Beschäftigten in Dienstleistungsjobs ohne Aufstiegsmöglichkeiten und mit geringer Bezahlung tätig sind.

(Heinz Bude: „Die neue soziale Spaltung„)

Dass das DIW unter Marcel Fratzscher das Thema in den Ökonomen-Mainstream getragen hat, ist bemerkenswert. Und interessant zu sehen, dass zwar die Ungleichheit von anderen Ökonomen nicht wirklich bestritten wird, wohl aber dessen Auswirkungen – so sind es wohl nicht gerade die abgehängten Armen, die Trump gewählt haben (oder hierzulande AFD wählen). Allerdings ist kaum zu bestreiten, dass die Abgehängten eher gar nicht wählen gehen. Und das ist demokratietheoretisch eher bedenklicher als die Stimmabgabe für Populisten.

Auch wenn die Mahnung der OECD diskutiert wird, Deutschlands Vermögensverteilung sei ungerecht, dann geht es häufig darum, ob das denn wirklich so schlecht sei. Und nicht um die Tatsache an und für sich. (Darum geht es in dem reißerisch betitelten Artikel der FAZ „IW Köln widerlegt OECD Studie zu Ungleichheit“.  Widerlegt wird nicht die Feststellung der Ungleichheit bei Einkommensentwicklung und Vermögen, „widerlegt“ wird die Annahme, dass das Wirtschaftswachstum kosten könne. Dass es die Zustimmung zu demokratischen Parteien und zum Wirtschaftssystem an sich kosten könnte, war nicht Gegenstand des Interesses des arbeitgebernahen Instituts

Je nach statistischer Schätzmethode lasse sich für Deutschland sogar ein positiver Zusammenhang zwischen steigender Ungleichheit und dem Wirtschaftswachstum zeigen, legte Hüther dar.

Hier tauchen wir aber tief ab in die Ökonomen-Trickkiste.)

Hier nochmal ein Überblick zum Thema Ungleichheit und mangelnde Aufstiegschancen.

Zurück zu „Alternative Fakten“. „Relativ geringe Ungleichheit“ attestiert Müller in seinem Meinungsartikel zu Populismus. Man darf sich nichts vormachen: wer es nicht einmal schafft, die Ausgangslage richtig dazustellen, der wird keine Rezepte gegen Populismus finden. Journalisten müssen ihr Weltbild immer mal wieder in Frage stellen – das gilt auch für diejenigen, die ausschließlich soziale Ungleichheit unter der Prämisse des berühmten dramaturgischen „immer mehr“ betrachten.